Der Blog rund um die Wurzelsuche

Wenn Familiensysteme in Bewegung geraten

Wir sprechen in der Herkunftsberatung bei einer Familie von einem „System“. Dazu gehören mitunter nicht nur die direkten Familienmitglieder, es können auch Nachbarn oder wichtige Bekannte zu einem System gehören (zum Beispiel Liebhaber). Man kann sich so ein „System“ etwa so vorstellen wie ein Mobile. Die Angehörigen des Systems sind die Figuren, die an den einzelnen Streben hängen. Wird eine der Figuren bewegt, abgeschnitten oder eine neue Figur dazu gehängt, bewegt sich das gesamte System. Das erleben wir immer wieder bei unserer Arbeit. Deshalb erfassen wir zu Beginn jeden Auftrags das System in einem ausführlichen Vorgespräch und visualisieren es für uns in Form eines sogenannten Genogramms. Wir versuchen während der Arbeit das gesamte System im Blick zu behalten und zu berücksichtigen, wer mit wem wie „zusammenhängt“.

Ein exemplarisches Beispiel

Die Geschichte, die ich heute erzählen will, verdeutlicht sehr gut, was passieren kann, wenn so ein Familiensystem einmal in Bewegung geraten ist. Ein junger Mann suchte seine Herkunftsfamilie. Ich nenne ihn hier einmal Thorsten. Er wurde als Baby adoptiert und hatte seine leiblichen Eltern nie gesehen. Seine Schwester wurde ebenfalls von derselben Familie adoptiert. Die Kinder wussten von Anfang an, dass ihre Eltern nicht ihre leiblichen Eltern waren.

Als Jugendlicher fand Thorsten zufällig die Adoptionsunterlagen bei seinen Eltern. Was er dort las, erzeugte einen Riss zwischen ihm und dem Rest der Familie. Die Adoption seiner Schwester wurde von der selben Adoptionsvermittlungsstelle durchgeführt wie seine eigene. Ein Brief des damaligen Sachbearbeiters ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Dazu muss man wissen, dass die Geschwister unterschiedliche Väter hatten. Thorstens Vater ist Marokkaner, der der Schwester Deutscher. Er las in den Papieren, dass man den Adoptivvater beruhigen könne, Thorsten sei recht hellhäutig und man sähe ihm seinen nordafrikanischen leiblichen Vater nicht unbedingt an.

Die Sehnsucht nach den nordafrikanischen Wurzeln wächst.

Erst da sei ihm bewusst geworden, woran es lag, dass er sich nie als dazugehörig gefühlt hatte, erzählte Thorsten mir im Vorgespräch. Der Kontakt zu seiner Adoptivfamilie war seit vielen Jahren abgebrochen. Die einzige Verbindung, die etwas mit emotionaler Wärme zu tun hatte, empfand Thorsten bei der Schwester seines Adoptivvaters und ihrer Familie. Sie hatte einen Algerier geheiratet, und Thorsten fühlte sich bei den gegenseitigen Besuchen immer sehr aufgehoben. Zu seinem Cousin, dem etwa gleichaltrigen Sohn der Schwester seines Adoptivvaters, hatte er trotz des Kontaktabbruchs zu seiner Adoptivfamilie regelmäßig einen herzlichen Kontakt.

Unser Auftrag begann auf Thorstens Wunsch mit der Suche nach der leiblichen Mutter. Nachdem wir sie gefunden hatten, wurde deutlich, dass sie ihrer Familie nichts von der Existenz der zur Adoption gegebenen Kinder erzählt hatte. Es dauerte daher eine Weile, bis ein direkter Kontakt zwischen Thorsten und seiner leiblichen Mutter möglich wurde. Obwohl ich den Kontakt als „gelungen“ bezeichnen kann, scheint es unwahrscheinlich, dass sich so etwas wie eine Beziehung entwickeln wird. Die Beiden sind einander zugewandt und freundlich; sie leben jedoch in zwei unterschiedlichen Welten, die aus meiner Sicht nicht kompatibel miteinander sind.

Dann endlich sollten wir den leiblichen Vater suchen. Ich hatte im Vorgespräch schon gemerkt, dass Thorsten sich sehr zu seinem unbekannten leiblichen Vater hingezogen fühlte, vermutlich weil dieser seine marokkanische Identität verkörpert. Dass er die Suche mit der leiblichen Mutter begann, wirkte wie ein „Warmlaufen“ bei der emotional sehr anspruchsvollen Herkunftsklärung.

Als die Erfüllung der Sehnsucht in greifbare Nähe rückt, kommt Bewegung ins System.

Sobald die Suche nach dem leiblichen Vater begann, entstand eine Dynamik, die ich im Rückblick als so etwas wie“ Selbstheilungskräfte eines Systems“ empfinde. Was geschah? Der Vater wurde schneller als erwartet gefunden. Während wir gerade die Kontaktanbahnung vorbereiteten, passierte folgendes: Der Cousin rief an und erzählte Thorsten, dass die inzwischen erwachsenen Töchter von Thorstens Schwester gerne Kontakt zu ihrem Onkel aufnehmen würden.

(Ja, machen Sie sich ruhig eine Skizze.)

Thorsten hatte die Kinder das letzte Mal als Babys gesehen und hätte nie gedacht, dass sie sich einmal für ihn interessieren würden. Und gerade jetzt, als er sich Richtung Herkunftsfamilie orientierte, kam dieser Teil seiner Familie in Bewegung: Seine Nichten suchten nach ihm! Thorsten freute sich sehr darüber, auch wenn dieser Kontakt für ihn nicht zum besten Zeitpunkt kam. Denn er verspürte gerade größte Aufregung, weil er nicht wusste, wie sein leiblicher Vater auf seinen Kontaktwunsch reagieren würde.

Der Brief an den leiblichen Vater wird abgeschickt und es scheint, als ob ein Damm bricht.

Am selben Tag, als er den Brief erhielt, rief der Vater an und erzählte, dass er selbst schon lange nach seinem Sohn gesucht hatte. Man hatte ihm damals keine Gelegenheit gegeben, die Vaterschaft offiziell anzuerkennen. Er hatte seinen sechs nachgeborenen Kindern immer von Thorsten erzählt. Er ist ein wahrer Familienmensch, und seine Kinder sind und waren immer sein Lebensmittelpunkt. Es dauert keine Stunde, und Vater und Sohn hatten ein langes Telefonat. Sofort verabredeten sie sich für das kommende Wochenende in Stuttgart. Thorsten erzählte dem Vater, dass er beruflich in Hamburg zu tun habe. Der Vater gab ihm daraufhin die Telefonnummer seiner jüngsten Tochter, die in Hamburg lebte. Thorsten notierte die Nummer, rief aber nicht an, weil er angesichts der aktuellen Entwicklungen keine Kapazitäten neben seinem Job dafür hatte.

„Everything falls into place“

Und es passierte wieder etwas, was „besonders“ anmutet, wenn man es sich „systemisch“ betrachtet. Die Tochter aus Hamburg wusste nichts von alledem. Ohne Vorankündigung und ohne dass sie eine Begründung dafür wusste, rief sie ihren Vater an und fragte, ob sie besuchen könne. Der Vater hatte noch nicht alle Kinder informiert, sie kam ihm zuvor. Dass diese jüngste Tochter den Impuls verspürte, genau an dem Wochenende nach Stuttgart zu kommen, als Thorsten dort war, ist wieder etwas, woran sichtbar wird, welche Dynamiken in Systemen frei werden, wenn sie einmal in Bewegung geraten sind.

Um das Bild des Mobiles noch einmal aufzugreifen: Thorsten erlebt soeben, wie sein System-Mobile und seine Position darin sich neu einpendeln. Noch ist dieser Prozess nicht abgeschlossen, und ich wünsche ihm von Herzen, dass sein Familiensystem eine neue Balance finden wird, die sich gut und richtig für ihn anfühlt.

 

Tipp: Nicht immer finden Familiensysteme ohne Weiteres in die Balance zurück. Deshalb gehören zu unserem Netzwerk auch psychologische Fachkräfte, die unseren Klienten in belastenden Situationen zusätzliche Beratung anbieten.

 

Bildnachweis: crib-mobile-2654734, @Laura-Tara, CC0, pixabay.com

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