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Zu Besuch im Jugendamt – ein Plädoyer für die Biografiearbeit

Oft höre ich von unseren Klientinnen und Klienten, wie schwer sie sich tun, ihre Lebensgeschichte mit all ihren Brüchen, Verletzungen und Ungewissheiten zu verarbeiten und zu akzeptieren. Wie geht es eigentlich heutigen Adoptiv- und Pflegekindern damit? Besuch in einem Seminar für Biografiearbeit.

Schwierige Lebensgeschichten früher und heute

Klar, im Leben jedes Pflege- oder Adoptivkinds gab es triftige Gründe, wie auch immer geartete Brüche, die dazu geführt haben, dass es nicht mit seinen leiblichen Eltern oder nur mit einem leiblichen Elternteil zusammenleben kann. Die Frage ist, wie man mit diesen Brüchen umgeht. Mit „man“ meine ich nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen, die die Verantwortung für die Kinder tragen.

Richtet sich der Blick vorrangig auf Defizite und Mängel? Vor nicht allzu langer Zeit war das so. Adoptionen wurden nicht nur nach außen, sondern auch nach innen, sprich vor dem Kind selbst geheim gehalten. Bis zur Gesetzesreform von 1976 (mehr Wissenswertes dazu hier) wurde die Adoption als Annahme „an Kindes statt“ bezeichnet. Diese Wortwahl deutet schon an, dass diese Kinder nicht unbedingt als vollwertige Familienmitglieder betrachtet wurden. Viele erfuhren erst als Erwachsene, oft nur zufällig und schockartig, von ihrer Adoption. Das war nicht einmal böse gemeint. Selbst unter Fachleuten herrschte die Überzeugung, das Verschweigen diene dem Kindeswohl. Aber so manche der beteiligten Erwachsenen wollten auf diese Weise sich selbst schützen und unangenehme Erfahrungen verdrängen. Die Kinder dieser Zeit sind heute unsere Klientinnen und Klienten, die versuchen, mit unserer Hilfe ihre Wurzeln zu ergründen.

Und heute? Offenbar hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Verheimlichen keine Lösung für die betroffenen Kinder ist, sondern sie zusätzlich belastet. „Für die seelische Reifung von Kindern, für das Gefühl, ein kompletter und wertvoller Mensch zu sein, ist das Bewusstsein für die eigene Biografie von entscheidender Bedeutung.“ (Psychologie Heute, Februar 2018, S. 62) Der Schlüssel zur eigenen Lebensgeschichte ist Biografiearbeit. „Lebensschätze bergen“, so hieß die Weiterbildungsveranstaltung des Jugendamts Frankfurt, an der ich vor kurzem teilnehmen durfte. Thema war die Einführung in die Biografiearbeit für Pflege- und Adoptiveltern.

Was ist Biografiearbeit?

Biografiearbeit ist das Ergründen der eigenen Lebensgeschichte in all ihren Facetten, mit dem Ziel der Identitätsfindung und -festigung. Sie dient der Beantwortung dreier zentraler Fragen: „Wer bin ich, wo komme ich her, und was will ich eigentlich von meinem Leben?“ (Psychologie Heute, Februar 2018, S. 58 ff.) Für Adoptiv- und Pflegekinder geht es darum, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren, Krisen, Wendepunkte, schmerzliche Erfahrungen zu verarbeiten, um sie stark für die Gegenwart und Zukunft zu machen.

Zur Biografiearbeit gehören das Sammeln, Einordnen und Besprechen wichtiger Lebensereignisse zusammen mit einer Vertrauensperson und ein greifbares Ergebnis, zum Beispiel in Form eines „Lebensbuchs“, das zum einen die Lebensgeschichte festhält und zum anderen fortlaufend ergänzt werden kann.

Solche Vertrauenspersonen saßen nun in dem Seminar: Eltern von Adoptiv- und Pflegekindern im Alter zwischen zwei und acht Jahren. Neben den theoretischen Grundlagen der Biografiearbeit ging es vor allem um die praktische, kindgerechte Umsetzung.

Die angesetzte Seminardauer von zwei Abenden erwies sich als viel zu kurz, um alle Fragen zu beantworten. Hier nur ein kleiner Ausschnitt:

Frage: Was gehört alles zur Biografie?

Jede Lebensgeschichte hat verschiedene Erzählstränge:

  • die soziale Biografie, die bei Adoptiv- und Pflegekindern das Zusammenleben in mehreren Familien beinhaltet und sich zum Beispiel mit einem Genogramm visualisieren lässt
  • die Kultur-Biografie, die sowohl die „große Kultur“, also Musik, Literatur, bildende Kunst etc. umfasst, als auch die Alltagskultur, also die Art oder Stil der Lebensführung eines Menschen
  • die Natur-Biografie, womit die „eigene“ Natur, also die des Körpers, ebenso gemeint ist wie die Geschichte eines Menschen in und mit der Natur, die ihn umgibt
  • die Mytho-Biografie, also die Weltanschauung, der Glauben, die ideologische Prägung eines Menschen. (Vgl. Hubert Klingenberger, siehe unten)

Diese Vielfalt von Perspektiven lässt schon erkennen, dass auch Kinder mit einer schwierigen Geschichte nicht nur negative, sondern sicher auch positive Erfahrungen zusammentragen können.

Frage: Wie erkläre ich dem Kind, wer all die Leute sind, die in unserem Familienleben mitmischen?

Vorhin schrieb ich von den „Erwachsenen, die die Verantwortung tragen“. In den meisten Fällen sind das Vater und Mutter. Punkt. Doch die unterschiedlichen Aufgaben von Eltern können auf mehr Schultern verteilt werden. Das Modell der vier Dimensionen der Elternschaft erklärt sie.

  1. biologische Eltern – sie schenken dem Kind das Leben
  2. soziale Eltern – sie leben im Alltag mit dem Kind zusammen und tragen die „Jeden-Tag-Verantwortung“
  3. rechtliche Eltern – sie haben das Sorgerecht und regeln die großen Fragen des Lebens, z.B. ein Vormund
  4. ökonomische Eltern – sie kommen für den Lebensunterhalt des Kindes auf, bei Pflegekindern das Jugendamt

In diesem Modell (vgl. Birgit Lattschar und Irmela Wiemann, siehe unten) wird keine der zuständigen Parteien ausgeklammert, denn nur mit allen vier Teilaufgaben zusammen funktioniert Elternschaft.  Auch wird hier schon deutlich, dass auch die leiblichen Eltern Wertschätzung erfahren („das Leben geschenkt“) und damit als Teil der eigenen Geschichte akzeptiert werden können. Für Kinder lassen sich die Akteure und ihre jeweiligen Rollen in diesem Modell mit Hilfe von Spielzeugfiguren veranschaulichen.

Frage: Wie erkläre ich dem Kind schwierige Themen, z.B. Drogensucht, Gefängnisaufenthalte, Gewalt in der leiblichen Familie?

Keine Tabus, lautet die wichtigste Forderung. Lattschar und Wiemann (siehe unten) geben wichtige Formulierungshilfen für kindgerechte Erläuterungen. Die eigene Haltung der Vertrauenspersonen muss dabei klar sein und frei von Vorwürfen, Scham oder Ängsten, so dass man zusammen mit dem Kind über die ungelösten Probleme trauern kann – auch das eine heilsame Form der Verarbeitung.

Frage: Was, wenn verlässliche Informationen fehlen?

(Das Kind einer Teilnehmerin war durch anonyme Geburt zur Welt gekommen.)

Auch ein Jugendamt ist nicht allwissend, leibliche Eltern und andere Verwandte können verschwunden oder gestorben sein … Solche Wissenslücken sind und bleiben ein Verlust für das Kind. Es geht in der Biografiearbeit aber nicht ausschließlich um die „harten Fakten“. Es ist legitim, die Lücken mit Vermutungen zu füllen, zu überlegen, welches Geschehen plausibel sein könnte, und sogar ersatzweise zusammen mit dem Kind eine Phantasieperson zu entwerfen.

Frage: Wie gehen wir damit um, wenn das Kind von außen unangenehme Fragen oder negatives Feedback bekommt?

Die „besondere“ Familienkonstellation ist manchmal für Außenstehende offensichtlich, etwa bei einer Regenbogenfamilie oder wenn die Familienmitglieder unterschiedliche Hautfarben haben. Selbst ein abweichender Nachname, an sich eine unspektakuläre Sache, kann Fragen aufwerfen. Ein Teilnehmer erzählte, wie sein Vierjähriger im Kindergarten von einem anderen Kind mit der Frage überfallen wurde: „Hast du keine RICHTIGEN Eltern?“

Ein Ziel der kontinuierlichen Biografiearbeit ist es, das Kind stark zu machen, damit es in solchen Situationen die Dinge geraderücken und Vorurteilen souverän entgegentreten kann. „Keine Tabus“ heißt nicht, dass das Kind seine Geschichte auf dem silbernen Tablett servieren soll. Es bedeutet vielmehr Offenheit nach innen und Schutz der Privatsphäre nach außen. Eltern und Kinder können gemeinsam eine „Cover-Story“ entwickeln, die (oft auch wohlmeinende) Fragen von Außenstehenden knapp und freundlich beantwortet, ohne Intimes preiszugeben. Kinder sollten üben, auf diese Weise allzu übergriffige Fragen abzuwehren oder an Erwachsene zu delegieren. („Frag doch meine Mama“).

Frage: Wie kann das materielle Ergebnis der Biografiearbeit aussehen?

Hier sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt. Zu den Möglichkeiten zählen Landkarten des Lebensweges, Schatzkisten voller Erinnerungsstücke, Fotos, Briefe, selbstgestaltete Stammbäume etc. Im Handel sind auch „Lebensbücher“ erhältlich. Dabei handelt es sich um Einzelblattsammlungen in Ringbüchern, so dass im Lauf der Zeit stets neue Inhalte eingefügt werden können. (Mein persönlicher Eindruck war, dass diese Lebensbücher zwar liebevoll gestaltet sind und wertvolle Inspirationen liefern können. Allerdings würde ich sie nicht 1:1 verwenden, da die Lebensbücher ursprünglich für die Arbeit mit Heimkindern konzipiert wurden und nie alle Inhalte sicher zur individuellen Situation eines Kindes passen.)

Mein persönliches Fazit:

Am Ende des zweiten Abends ging ich beschwingt nach Hause, mit dem Gedanken: Diese Adoptiv- und Pflegeeltern verstehen sich als Helfer und Partner ihrer Kinder in der Identitätsfindung, als Bindungs- und Vertrauenspersonen. Und die Jugendämter unterstützen sie aktiv in dieser Rolle.

Dieses Verständnis von der Bedeutung der Biografiearbeit für Adoptiv- und Pflegekinder ist eine relativ junge Entwicklung. Wohl auch deshalb hört man immer wieder von Adoptierten, die ein schwieriges oder gar zerrüttetes Verhältnis zu ihren annehmenden Eltern haben/hatten: weil ihnen Hilfe bei der Identitätsfindung fehlte. Weil keine Türen geöffnet, sondern Mauern errichtet wurden, um unangenehme Wahrheiten von Kindern und Eltern fernzuhalten. Weil auf diese Weise kein starkes (Selbst-)Vertrauen entstehen konnte, das in schwierigen Zeiten Halt gegeben hätte?

Wir von der Herkunftsberatung helfen ebenfalls dabei, Lücken in der Lebensgeschichte zu füllen. Sprechen Sie uns gerne an!

Quellen/Lektüreempfehlungen:

Hubert Klingenberger, Lebensmutig: Vergangenes erinnern, Gegenwärtiges entdecken. Künftiges entwerfen, Don Bosco Verlag München, 2003 (EAN: 9783769814262 )

Birgit Lattschar und Irmela Wiemann, Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte, Grundlagen und Praxis der Biografiearbeit, Juventa Verlag Weinheim und München, 5. Auflage 2018 (EAN: 978-3779926924)

Liebe Leserinnen und Leser, mich würde interessieren: Haben Sie als Erwachsene Erfahrungen mit Biografiearbeit gemacht? Dann teilen Sie sie doch bitte in den Kommentaren mit uns!

 

Bildnachweis: family-451358, CC0 @422737, pixabay.com

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