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Wahlbündnis statt Zwangsgemeinschaft

Anja Dilk beschäftigt sich im enorm Magazin damit, was Familie heutzutage bedeutet. Wie haben sich ihre Kernfunktionen verändert, und wie sieht der moderne, erweiterte Familienbegriff aus?

Emotionaler Halt statt Überlebensgarantie

Ihre Kernaussage lautet: Familie hat sich von der Versorgungsgemeinschaft hin zum emotionalen Zentrum entwickelt. „Sie ist keine Zwangsgemeinschaft mehr, sondern ein Wahlbündnis – dessen Mitglieder nur bleiben, wenn die Bilanz für sie stimmt. Weniger Verbindlichkeit ist der Preis der neuen Freiheit.“

Am Beispiel einer Patchworkfamilie schildert Anja Dilk, dass es Kraft, Geduld und Einfühlungsvermögen braucht, um ein neues Familienbündnis aufzubauen und zu pflegen, in dem jeder seinen sicheren Platz und emotionalen Halt findet.

Auch Forschungsergebnisse bestätigen die neue Kernfunktion „emotionaler Halt“ der Familie. Zitat:

„Den hohen Stellenwert von Familie bestätigen auch ihre eigenen Untersuchungen [i.e. die der Bochumer Familienforscherin Birgit Leyendecker]. Regelmäßig fragt die Forscherin Eltern von Kleinkindern aus mehreren Ländern nach ihren wichtigsten Sozialisationszielen bei der Erziehung. „Ganz vorn steht in Deutschland über alle Schichten hinweg: Ein Bewusstsein für den hohen Wert von Familie schaffen, gutes Miteinander und Zusammenhalt vorleben.“ Wo Emotionalität der Kern von Familie ist, verliert die biologische Gemeinsamkeit an Bedeutung. Form und Zusammensetzung einer Familie werden zweitrangig.“

Wahlbündnis Adoptivfamilie

Aus unserer Erfahrung in der Herkunftsberatung heraus möchte ich ergänzen:

Ja, die moderne Familie ist ein „Wahlbündnis“. Doch die (jüngeren) Kinder – z. B. Adoptivkinder – haben dabei keine Wahlfreiheit! Wenn Adoptierte dann erwachsen sind und beschließen, nach ihren Herkunftseltern zu suchen, haben manchmal eben doch nicht alle Familienmitglieder ein unerschütterliches Vertrauen in die Kraft ihres Bündnisses. Verunsicherung entsteht, und zwar auf beiden Seiten: Die Kinder befürchten, mit ihrem Suchanliegen die Adoptiveltern zu verletzen, die ihnen doch ein geborgenes Zuhause geschenkt haben. Und die Adoptiveltern versuchen teilweise aktiv, die Suche zu verhindern, weil sie vielleicht Angst haben, ihr „Wahlbündnis“ und sie als Eltern wären nicht gut genug gewesen.

Das traditionelle Bild von „Mutter + Vater + Kind(er) = Familie“ scheint eben doch so tief in uns verankert zu sein, dass Konkurrenzgedanken aufkommen können. Unter Umständen werden sie so stark, dass das Wahlbündnis tatsächlich zu bröckeln beginnt.

Wenn eine Wahlfamilie es schafft, eine Kultur der Offenheit und des gegenseitigen Vertrauens zu pflegen, kann auch diese Erkenntnis wachsen und gedeihen: Die biologischen Eltern haben dem Kind das Leben geschenkt. Was für eine kostbare Gabe! Damit treten sie jedoch nicht in Konkurrenz zu den annehmenden Eltern, die das Kind Tag für Tag durch dieses Leben begleiten. Ein solides „Wahlbündnis Familie“ wird durch eine Herkunftsklärung nicht in Frage gestellt.

 

Artikel: Anja Dilk, Was Familie heute bedeutet, https://enorm-magazin.de/was-familie-heute-bedeutet, April 2018

Bildnachweis: Henrique Macedo on Unsplash

 

Wahlbündnis statt Zwangsgemeinschaft