„Ich komme mir vor wie ein Exot“, sagte neulich eine Klientin. Da konnte ich ihr zumindest mit einem Buchtipp weiterhelfen. Ich empfahl ihr, Adoptiert. Eine lebenslange Aufgabe von Eric Breitinger zu lesen.
Obwohl die Zahl der Adoptionen in Deutschland seit Jahren rückläufig ist, werden aktuell immer noch rund 4.000 Kinder pro Jahr adoptiert. (Zahlen des Statistischen Bundesamts gibt es hier und hier.) Wie kann es da sein, dass Adoptierte offenbar gar nicht so selten darunter leiden, dass sie sich mit ihren Erfahrungen einsam und unverstanden, sprachlos und „exotisch“ fühlen? Eric Breitinger gibt Einblicke und Antworten.
Ein Betroffener berichtet, sammelt, ordnet ein
„Es fehlten mir die Worte für meine Erfahrungen und Gefühle als Pflege- und Adoptivkind. Und das geht, wie ich inzwischen festgestellt habe, vielen anderen genauso“, so Breitinger, Historiker und Journalist, in seinem Vorwort. Diese Erkenntnis brachte ihn dazu, das Buch zu schreiben. Darin beschränkt er sich nicht auf die Schilderung seiner eigenen Geschichte. Er machte sich die Mühe, 17 erwachsene Adoptierte bzw. ehemalige Pflegekinder zu interviewen. Ihre Erfahrungsberichte über das frühe Verlassenwerden und seine Auswirkungen ergänzt er um Informationen zu den rechtlichen, psychologischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen sich Adoptierte beweg(t)en.
Auch wenn schon der Untertitel darauf hinweist, was für eine Herausforderung die Adoption für die Betroffenen bedeutet, macht Breitinger Mut: Er begreift und schildert Adoption ausdrücklich auch als Chance.
Was bedeutet diese Lektüre für mich?
Manche Klienten der Herkunftsberatung brauchen gefühlte Ewigkeiten, bis sie sich zum ersten Anruf durchringen. Was hemmt sie? Doch ist diese Hürde erst genommen, packen sie ihre Geschichten aus, können sich im Erzählen kaum mehr bremsen. Was lässt die Dämme brechen? Eric Breitingers Buch hilft, mich in die Lage unserer Klienten hineinzuversetzen und in ihrem Sinne zu handeln, vom Vorgespräch bis zur Kontaktanbahnung.
Mir persönlich sagen Sachbücher, Fachbeiträge und dergleichen immer dann zu, wenn sie individuelle Geschichten mit Fakten und Analysen zu den Rahmenbedingungen kombinieren – so wie Breitinger es tut. Deshalb liegt sein Buch immer griffbereit auf meinem Schreibtisch. Ich betrachte es quasi als „Standardwerk für Herkunftsberater“. 😉
Wem würde ich die Lektüre empfehlen?
So kam es, dass ich meiner Klientin, die sich im Vorgespräch als Exotin bezeichnete, mit einem Blick auf meinen Schreibtisch spontan den Buchtipp gab. Sie war ganz euphorisch, und ich hoffe, sie erlebt die Lektüre tatsächlich als Bereicherung. Dadurch bin ich erst auf die Idee gekommen, das Buch hier im Blog vorzustellen.
Besonders lesenswert ist es
- für alle Betroffenen, die darunter leiden, dass dieses Thema in ihrer Familie tabuisiert wurde, und die niemanden haben, mit dem sie sich austauschen können
- für Verwandte und Freunde, die die inneren Nöte der Betroffenen erahnen und sie besser verstehen und sich als Gesprächspartner anbieten möchten. (Ob man es Adoptiveltern, die ihren Kindern mit ihrem Schweigen unwissentlich das Leben schwermachen, heimlich auf dem Nachttisch deponieren sollte?)
- für Eltern, die heutzutage ein Pflege- oder Adoptivkind aufnehmen möchten. Sie werden von den Jugendämtern zum Glück ganz anders auf ihre Rolle und die Situation und Bedürfnisse des Kindes vorbereitet als vor, sagen wir, 40, 50 Jahren. Das wird hoffentlich auf lange Sicht viele Probleme verringern. Die Lektüre von Adoptiert. Eine lebenslange Aufgabe kann Adoptiveltern zeigen, wofür sich die Mühe lohnt.
Buchtipp:
Eric Breitinger, Adoptiert. Eine lebenslange Aufgabe, erschienen 2016 im Herder Verlag, EAN/13stellige ISBN: 978-3451068294
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